Gewaltvolle Geburtserfahrungen sichtbar machen
Am 25. November ist Roses Revolution Day. Zum 14. Mal jährt sich international der Tag, an dem Frauen Rosen vor Kreissälen und Kliniken ablegen. Die Blumen symbolisieren unter der Geburt erlittene Gewalt. Mit den Gesten der betroffenen Mütter rückt das Thema zunehmend in den Fokus von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Weiterhin fehlt es an Klarheit: bezüglich Definitionen, Zahlen und Auswirkungen. Aber auch was Regelungen und Umgangsformen betrifft, um eine gewaltfreie Geburtshilfe zu gewährleisten.
Die Geburt
Die Geburt ist eine mächtige Erfahrung und ein einschneidendes, alles veränderndes Erlebnis im Leben einer Frau. Es ist eine auf vielen Ebenen vulnerable Situation, in die eine werdende Mutter sich begibt, körperlich wie emotional. Die Abhängigkeit von den Geburtshelfer*innen, ihrem Wissen und ihren praktischen Erfahrungen, ihrer Empathie und Zugewandtheit setzt ein hohes Maß an Vertrauen voraus.
Gewaltig ist der Geburtsakt selbst, angefangen von den Wehen über Dammriss- oder schnitt bis hin zu eventuellen Komplikationen bei Mutter und Kind sowie operativ beendeten Geburten. Doch sind es nicht die Geburtsschmerzen als solche, die Frauen eine Geburt als gewaltsam oder belastend, gar traumatisch erleben lassen.
Gewaltvolle Geburten
Es gibt keine allgemeingültige Definition von Gewalt unter der Geburt, weder in deutscher noch internationaler Fachliteratur. (1) Der Hebammenverband führt in seinem Positionspapier „Keine Gewalt in der Geburtshilfe“ Formen der Gewalt auf: Bewegungseinschränkungen und medizinisch nicht indizierte oder ohne informierte Einwilligung durchgeführte Untersuchungen und Interventionen, Alleingelassenwerden im Geburtsprozess und Respektlosigkeit werden u.a. aufgezählt. (2)
Ein ähnliches Statement der WHO von 2015 mit dem Titel „Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen“ nennt darüber hinaus rassistische und anderen Diskriminierungen, physische sowie verbale Gewalt und Demütigungen, sogar Zwangssterilisierungen. Auch die Verweigerung von Schmerzmitteln und die Nicht-Aufnahme in Krankenhäuser fallen darunter. Betroffen sind global gesehen vor allem ethnischen Minderheiten angehörige, unverheiratete, finanziell mittellose und mit HIV-infizierte Frauen. (3)
Wir haben, auch für Deutschland, keine verlässlichen Zahlen zu gewaltvollen Geburten. Dr. Katharina Hartmann, die Gründerin des Roses Revolution Day in Deutschland, geht von 10 bis 25 Prozent aus. (4) Neueren Studien zufolge macht etwa die Hälfte aller Frauen negative Erfahrungen während einer Geburt. (5) Laut Mother Hood e.V., einem Verein, der sich für sichere Geburten und eine bessere geburtshilfliche Versorgung einsetzt, sind in Deutschland jährlich Hunderttausende betroffen. (6)
Schwer zu erfassen sind Gewaltvorfälle, weil sie subtil sein können – kein grobes Festhalten, sondern eine respektlose Bemerkung oder grundlos verweigerte Erfüllung eines Bedürfnisses – und subjektiv erlebt werden: Eine Frau mit sexuellen Missbrauchserfahrungen kann eine vaginale Untersuchung als Übergriff empfinden. Eine Erstgebärende könnte mehr Kommunikation während der Geburt brauchen als eine Frau mit Geburtserfahrung. Was für eine Frau das richtige Maß an Zuwendung und Selbstbestimmung ist, kann für eine andere missachtend sein. Wird die persönliche Intimsphäre nicht gewahrt, eine Information vorenthalten oder nicht auf Augenhöhe kommuniziert, sind auch das Gewaltakte. (7)
Der wissenschaftliche Fokus auf Gewalt unter der Geburt ist relativ neu, die langfristigen Auswirkungen sind noch wenig evaluiert. Neben physischen und psychischen Verletzungen können in extremeren Fällen Bindungsstörungen zum Kind, Depressionen, Angst- und posttraumatische Belastungsstörungen auftreten. (8)
Spannungsfeld Geburtshilfe
Am 25. November ist Roses Revolution Day. Seit 2011 legen an diesem Tag weltweit Frauen rosafarbene Rosen vor Kliniken und Kreißsäle, in denen sie während der Geburt ihrer Kinder Gewalt erfahren haben. Einige von ihnen schildern ihre Erlebnisse und Gefühle in Briefen, die sie dazulegen. Auf der Webseite vom Roses Revolution Day Deutschland werden außerdem Erfahrungsberichte veröffentlicht und alle erwähnten Gewaltformen aufgelistet. Mit der wachsenden Wahrnehmung in Medien und Öffentlichkeit nimmt auch die Beteiligung von Zeug*innen zu, zum Beispiel aus den Familien der Betroffenen, von Geburtshelfer*innen und dem Klinikpersonal. (9)
Hebammen fällt als Anwältinnen von Gebärenden eine besondere Rolle zu: Als Fürsprecherinnen wahren sie die Interessen der werdenden Mütter, sind Kommunikationsbrücke zwischen Frau und Geburtshilfeeinrichtung und maßgeblich für eine umfassende Aufklärung verantwortlich. Im Kreißsaal werden sie oft Zeuginnen oder Ausübende von Gewalt unter der Geburt, gehen sogar selbst geschädigt aus den Erfahrungen hervor. (10)
Um eine sichere und selbstbestimmte Geburt zu gewährleisten, braucht es flächendeckend menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle in der Geburtshilfe Tätigen. Unterfinanzierung, Unterbesetzung und Überarbeitung durch berufsübergreifenden Personalmangel erschweren die Umsetzung. Der Zusammenhang zwischen chronischer Überlastung und Gewalt liegt auf der Hand. Viele Hebammen ziehen sich aus der Geburtshilfe zurück, weil sie nicht nach ihren ethischen Grundsätzen arbeiten können. Die, die bleiben, härten oft ab, um unter den widrigen Arbeitsbedingungen durchzuhalten. (11)
Die strukturellen Fehlentwicklungen in der Geburtshilfe sind weithin bekannt. Hervorgebracht haben sie starre Hierarchien, mit mangelhaften Kommunikationsstrukturen des medizinischen Personals untereinander sowie mit Frauen in der Geburtsvorbereitung. Zur Zeitersparnis oder aus Angst vor Klagen werden medizinisch unnötige Interventionen durchgeführt, die dem Willen der werdenden Mütter oft nicht entsprechen.
Aufgrund der fehlenden Dokumentation von Gewalt während Geburten gibt es keinen Lerneffekt aus Vorfällen, können keine Bewältigungsstrategien entwickelt und generalisiert eingeführt werden. (12)
Was braucht eine gewaltfreie Geburtshilfe?
Durchweg wird von allen Initiativen und Organisationen ein offener gesellschaftlicher wie politischer Umgang mit dem sensiblen Thema „Gewalt unter der Geburt“ gefordert. Strukturell dürften keine Rahmenbedingungen geduldet werden, die zu Gewalt in der Geburtshilfe führen könnten. Doch wie geht das konkret?
„Transparenz“ ist ein Schlüsselwort. Durch die Schaffung von Anlaufstellen für Schwangere und Mütter sowie Klinikpersonal könnte neben der Bereitstellung von therapeutischen Maßnahmen und Bewältigungsangeboten bei erlittener Gewalt ein Meldesystem entwickelt werden, das Gewaltvorfälle erfasst. Damit gäbe es eine Grundlage für einheitliche und verbindliche Regelungen sowie Sanktionen gegen wiederholt auffälliges Personal.
Außerdem braucht es „aktive Qualitätssicherung“: Mit der verbindlichen Bekenntnis und Umsetzung einer frauenzentrierten, gewaltfreien Geburtshilfe in Krankenhäusern und der Entwicklung von Qualitätssicherungsstrategien auf Basis von aufgearbeiteten Vorfällen würden strukturelle Entwicklungen in Gang gesetzt werden, an denen alle Mitwirkenden beteiligt wären. (13) In einigen Kliniken wird beispielsweise routinemäßig eine Nachbesprechung der Geburt angeboten. Frauen haben so die Möglichkeit, Feedback zur Geburtserfahrung zu geben. Ist die Anlaufstelle entsprechend sensibilisiert, könnten auch Gewalterfahrungen thematisiert werden.
Von der Politik wird die Anerkennung von Gewalt in der Geburt als Gewaltform gegen Frauen gefordert (14) und die Finanzierung von Forschungsaufträgen, um interventionsarme, (Trauma-) sensible Geburtshilfe voranzubringen. Sowohl praktische als auch Forschungserkenntnisse sollten in die Ausbildungen im geburtshilflichen Kontext fließen, für verpflichtend gewaltpräventive Lehrinhalte, regelmäßige Fortbildungen und extern geleitete Fallbesprechungen.
Um Arbeitsbedingungen von Hebammen zu verbessern und damit die Geburtshilfe, hat der Hebammenverband klare Empfehlungen, von flächendeckenden Angeboten und Ressourcen für hebammengeleitete Geburtshilfe, über die Eins-zu-eins-Betreuung, freie Geburtsortswahl bis zu Supervision für Hebammenteams in Kliniken. (15)
Fazit
„Geburtskultur muss wandelbar bleiben, sich entwickeln können. Gewalt muss täglich thematisiert werden – da sie Normalität in der Geburtshilfe unseres Landes und allseits akzeptiert ist.“ (16) Nicht zuletzt sind alle Geburtshelfenden in der Verantwortung, ihr eigenes geburtshilfliches Handeln und die gängige Praxis an ihren Arbeitsstätten fortlaufend kritisch zu hinterfragen, Aufklärung und Einwilligung in die Behandlungspraxis einzuhalten und Fortbildungsangebote zu nutzen.
Quellen:
(1) Vgl. Martin, H. und Simon-Kutscher, V. (2019): „Das Problem ist längst bekannt. Aber ist es auch erkannt?“ Hebammenforum 11/2019, S. 1214-1216. Das Fachmagazin des Deutschen Hebammenverbandes widmete dem Thema „Gewalt in der Geburtshilfe“ im November 2019 eine komplette Ausgabe.
(2) https://hebammenverband.de/wp-content/uploads/2020/12/20200219_Positionspapier_Keine_Gewalt_in_der_Geburtshilfe_final.pdf.
(3) aufrufbar unter https://iris.who.int/server/api/core/bitstreams/a287bfd1-97c0-4af6-ba57-a4469f1d3ed8/content.
(4) Die Zahlen stammen aus einem Interview in HEBAMMENinfo 4/2015.
(5) Vgl. u.a. Leinweber, J., Jung, T., Hartmann, K. und Limmer, C. (2021): Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe – Auswirkungen auf die mütterliche perinatale psychische Gesundheit. Public Health Forum, Jg. 29 (Ausgabe 2), S. 97-100. https://doi.org/10.1515/pubhef-2021-0040.
(6) https://mother-hood.de/aktuelles/gewalt-in-der-geburtshilfe-hunderttausende-betroffen/.
(7) Zur machtvollen Position der Hebamme: Yvonne Bovermann im Editorial vom Hebammenforum 8/2016 zum Thema „Gewalt“, S. 825.
(8) Vgl. Desery K. und Hartmann K. (2019): „Raus aus der Tabuzone“. Hebammenforum 11/2019, S. 1210-1213.
(9) https://www.rosesrevolutiondeutschland.de.
(10) Vgl. Martin, H. und Simon-Kutscher, V. (2019): „Das Problem ist längst bekannt. Aber ist es auch erkannt?“ Hebammenforum 11/2019, S. 1214-1216.
(11) Vgl. ebd.
(12) https://hebammenverband.de/wp-content/uploads/2020/12/20200219_Positionspapier_Keine_Gewalt_in_der_Geburtshilfe_final.pdf.
(13) Vgl. ebd.
(14) Vgl. https://mother-hood.de/aktuelles/gewalt-in-der-geburtshilfe-hunderttausende-betroffen/.
(15) Vgl. https://hebammenverband.de/wp-content/uploads/2020/12/20200219_Positionspapier_Keine_Gewalt_in_der_Geburtshilfe_final.pdf.
(16) Pressemitteilung zum Roses Revolution Day 2021, abrufbar unter https://www.rosesrevolutiondeutschland.de/.cm4all/uproc.php/0/Pressemitteilung_2021.pdf?cdp=a&_=17d0078f7bb.

